In der Welt beklagt Richard Herzinger eine „wundersame Vermehrung der Putin-Versteher„. Wer Putins Gewaltpolitik hinnähme, begünstige nur dessen nächsten Schritt. Die Begründung seiner Ansicht fällt dann allerdings auffällig flach aus: Es wird von “ martialischen Weltmachtambitionen“ gesprochen und darüber spekuliert, auf wessen Seite Europas extreme Rechte stehe. Eine ernsthafte Begründung liegt nicht vor. Herzingers Forderung lautet dennoch: Der Westen solle hart bleiben um Putin auch innenpolitisch zu treffen.
Mehr militärische Präsenz in den an Russland angrenzenden Ländern, das scheint nicht nur der Vorstellung einer Verteidigungsministerin von der Leyen zu sein, die bis vor kurzem nicht mal die Dienstgrade ihrer Untergebenen erkennen konnte und in Afghanistan jedes Bild mit Panzer oder Waffen scheute. Berlin will osteuropäische Nato-Staaten militärisch unterstützen. Das ist inzwischen offizielle Linie.
Wer versucht, die Hintergründe zu verstehen, wird damit nicht automatisch zum „Putin-Versteher“ im Sinne Herzingers. Den Konflikt kann nur Verstehen, wer die unterschiedlichen Hintergründe kennt:
Geschichtlich: Der russische Gründungsmythos beginnt in Kiew. Teile der Ukraine gehörten über Jahrhunderte zum Russischen Reich bzw. zur Sowjetunion. Ein Einflußverlust würde von allen Russen als Niederlage angesehen werden und der Politiker an der Spitze, der dies hinnimmt, abgestraft werden. Die Krim selber wurde 1954 von Nikita Chruschtschow unter seltsamen Umständen an die Ukraine gegeben. Ihre Bewohner sind seit jeher mehrheitlich Russen. Selbst wenn das erfolgte Referendum nicht allen Anforderungen gerecht wird, ist davon auszugehen, daß die Mehrheit der Krim- Bewohner nicht nur aufgrund von ökonomischen Vorteilen zu Russland will.
Ökonomisch: Eine der wichtigsten Einnahmequellen des Russischen Staates basiert auf dem Export von Gas und Öl. Die Transportwege von Russland nach Europa verlaufen durchs Schwarze Meer auf dem Seeweg oder durch Pipelines – insbesondere durch die Ukraine in Form von Pipelines. Während Russland keine seiner territorialen Größe entsprechende wirtschaftliche Macht darstellt, kann es durchaus die Lieferbedingungen in seinem Sinne bestimmen. Grade dieses wollen EU und USA umgehen, die gigantische Geldsummen in alternative Routen stecken und diese Investitionen sichern wollen. Bei Investitionen konkurrieren die EU, die USA und Russland.
Strategisch: Die Nato wird von Russland als größte Bedrohung für den Frieden wahrgenommen. Nach dem Zerfall der UdSSR sind EU und Nato entgegen mancher Zusicherungen immer weiter an Russland herangerückt. So zuletzt durch Bulgarien und Rumänien. Besonders ärgerlich für Russland: die Expansion in der für Russland ökonomisch so wichtigen Schwarzmeerregion. Militärisch ist noch die russische Schwarzmeerflotte zu nennen – Hauptstützpunkt Sewastopol auf der Krim.
So gesehen nicht Putin der Aggressor sondern derjenige, der seinen Einflussbereich zu erhalten versucht während EU und Nato Russland in den vergangenen Jahren zurückzudrängen versucht haben. Die Umwälzungen in der Ukraine wurden von enormen Geldflüssen und viel Geheimdienstarbeit („Stiftungen“) begleitet. EU und USA mit ihrem universalen Anspruch sehen ihre eigene Ausbreitung als selbstverständlich an. Wenn sie damit die Russen demütigen, sie ökonomisch bedrohen und strategisch in die Enge treiben, dann sind Gegenmaßnahmen nicht verwunderlich. Was zunächst wie eine russische Offensive aussah, entpuppt sich als defensive Gegenwehr. Daran sollten wir denken, wenn Politiker und Medien an neuen Feindbildern arbeiten und am Ende eine tatsächliche Eskalation riskieren. Geben wir Kriegstreibern keine Chance!